Der Arbeitnehmer als unselbständiger Selbständiger


Die neue Unternehmensorganisation und der Begriff der Autonomie


von Klaus Peters

[COMMUNITAS] Wer die Rolle der Autonomie in den neuen Managementformen begreifen will, tut gut daran, zunächst einen Blick zurück zu werfen.

In der traditionellen Unternehmensorganisation ist die Lage der Beschäftigten durch einen Mangel an Autonomie gekennzeichnet. Mit »Autonomie« ist dabei das Gegenteil einer Unterordnung unter einen fremden Willen gemeint: »tun, was man selber will«. Wenn man eine Menge autonom handelnder Menschen aus der Perspektive eines Unternehmenszwecks betrachtet, erscheinen sie nur als ein unorganisierter Haufen. Erst in dem Maße, in dem die einzelnen auf ihre Autonomie verzichten, verwandelt sich dieser Haufen in eine Organisation und damit in ein Unternehmen, das geführt werden kann.

Eine Organisation, die durch einen solchen Autonomieverzicht der Organisierten entsteht, hat die Form eines Kommandosystems. Es funktioniert auf der Basis von Zwang. Mangelnde Disziplin muß bestraft werden. Am Grunde von Befehl und Gehorsam liegt die Angst vor Sanktionen.

Darum ist Gehorchen nicht angenehm. Aber auch Befehlen ist nicht leicht. Einer muß die Tätigkeit von vielen steuern, und er muß gleichzeitig die Disziplin aufrechterhalten. Bei einer zunehmenden Anzahl von Untergebenen wächst ihm die Sache bald über den Kopf. Das Kommandosystem befreit sich aus dieser Verlegenheit, indem es eine spezielle Eigenschaft von Befehl und Gehorsam ausnutzt: Arbeitnehmern, die gehorchen können, kann man das Befehlen befehlen. Dabei delegiert der Befehlende einen Teil seiner Befehlsgewalt per Befehl an Untergebene - d.h. der Unternehmer delegiert Unternehmerfunktionen an abhängig Beschäftigte - und diese Untergebenen haben nun den Auftrag, Anweisungen zu geben, d.h. sie gehorchen genau dadurch, daß sie selbst (gegenüber anderen) Befehle erteilen; sie befehlen gehorchend oder gehorchen befehlend. Es ist dies ersichtlicherweise der logische Ort des sogenannten Vorgesetzten, durch den sich die einfache Gegenüberstellung von Befehlenden und Gehorchenden in eine ausdehnungsfähige Hierarchie von Befehlsgewalten verwandelt.

In der Hierarchie steht nun aber die Autonomie ihrem Gegenteil nicht mehr bloß gegenüber, sondern sie wird von ihm vereinnahmt. Die Form, die diese Vereinnahmung möglich macht, ist der eingeräumte Handlungs- und Entscheidungsspielraum. Seine Grenzen sind fremdbestimmt, aber innerhalb dieser Grenzen muß der Untergebene autonom entscheiden. Diese seine Autonomie gehört zu seinem Auftrag, und wenn er sie nicht im Sinne seines Auftrags benutzt, verschwindet sein Spielraum wieder, wie er gekommen ist: auf fremdbestimmten Wegen.

Im eingeräumten Spielraum begegnet uns also eine Art von fremdbestimmter Selbstbestimmung, eine heteronom bedingte Autonomie. Sie dient dem Kommandosystem als universelles Schmiermittel, mit dem es sich immer dann weiterhilft, wenn es sich selbst im Weg steht. Dabei sind vor allem zwei Fälle von Bedeutung:

Beide Male antwortet das Kommandosystem mit der Einräumung von Spielräumen. Dabei macht es Politik mit seiner eigenen Widerlichkeit. Es ist den Menschen bekanntlich etwas wert, wenn sie sich zueinander verhalten können, als ob das Verhältnis von Befehl und Gehorsam gar nicht da wäre. Um in den Genuß dieses Vorteils zu kommen, antizipieren die Weisungsgebundenen im eingeräumten Spielraum »freiwillig« die Absichten des Weisungsbefugten. Sie verinnerlichen die befehlende Instanz und können dadurch ein Gefühl von Selbständigkeit entwickeln, das sich, weil es angenehm und sogar schmeichelhaft ist, bis zu der Selbsttäuschung steigern kann, daß sie gar nicht in einem Kommandosystem arbeiten. Mit dieser Selbsttäuschung der Beschäftigten erreicht das Kommandosystem den Punkt seiner höchsten Perfektion.

Bis hierher haben wir es mit der Form zu tun, in der die alte Unternehmensorganisation autonomes und selbständiges Handeln von abhängig Beschäftigten zuläßt (und fordert): Menschen, die unter solchen Bedingungen arbeiten, fällt es besonders schwer, das Neue an den neuen Managementformen zu erkennen. Sie gewinnen sehr leicht den Eindruck, daß es bei der gegenwärtigen Reorganisation der Unternehmen nur um einen weiteren Ausbau ihrer Spielräume geht - daß sich also die neuen Formen von den alten Formen nur graduell unterscheiden. Aber das ist falsch. Mit Handlungs- und Entscheidungsspielräumen wird das Kommandosystem perfektioniert, die neuen Managementformen wollen es abschaffen und ersetzen.

Aber ist das Oberhaupt möglich? Die Erfahrung im Kommandosystem zeigt ja, daß die Menschen sich nicht mehr anstrengen, wenn der Zwang fehlt - oder nur noch so anstrengen, wie sie sich heute schon beim Spielen anstrengen, aus Spaß an der Sache. Nun sind in der Tat einige Optimisten der Meinung, daß die Arbeit in Zukunft immer mehr Spaß machen werde, aber pessimistischere Gemüter können eine solche Tendenz nur in Ausnahmefällen erkennen oder auch Oberhaupt nicht und schließen daraus, daß eine Alternative zum Kommandosystem unrealistisch sei. Ich möchte mich zwischen diese beiden Stühle setzten.

Die Logik des Kommandosystems führt beide - »Optimisten« wie »Pessimisten« - dazu, den Abbau von Zwang und Kommando ganz selbstverständlich als eine Entlastung der abhängig Beschäftigten zu verstehen. Mir scheint es aber im Gegenteil um eine neuartige Steigerung ihrer Belastung zu gehen, nämlich um eine Erhöhung des Leistungsdrucks über dasjenige Maß hinaus, das mit Befehl und Gehorsam erreicht werden kann. Es handelt sich um das paradox klingende Programm, den Druck auf die Beschäftigten zu erhöhen, indem man den Zwang, dem sie ausgesetzt sind, - wegnimmt.

Um nicht mißverstanden zu werden: trotz dieser Einschätzung bin ich der Meinung, daß man den Abbau von Kommandostrukturen unbedingt begrüßen muß, - aber nicht, wie die Optimisten meinen, weil sich daraus eine Humanisierung der Arbeit ergibt, sondern obwohl eher das Gegenteil der Fall ist. Aber wie sieht dieses Gegenteil aus?

Wenn man die Logik des Kommandosystems durchbrechen will, braucht man nicht weit zu suchen. man muß sich dazu nur diejenige Position einer Befehlshierarchie näher anschauen, die selbst keinem Kommando unterworfen ist: die Spitze. Hier - und nicht bei Spaß und Spiel - finden die neuen Organisationsformen ihr Leitbild. Wenn es richtig wäre, daß die Menschen weniger arbeiteten, sobald von anderen kein Zwang auf sie ausgeübt würde, dann dürfte es den selbständigen Unternehmer nicht geben, der ein neues Unternehmen gründet und aufbaut. Niemand zwingt ihn! Und doch arbeitet er, wenn nötig, bis zum Umfallen - hochmotiviert und engagiert.

Diese Kombination von Freiwilligkeit und Anstrengung bis an die eigenen Grenzen (und darüber hinaus) ist es, die die Managementtheoretiker und Unternehmensberater nervös macht. Die Preisfrage heißt: Wie läßt sich dieses Phänomen bei abhängig Beschäftigten reproduzieren und zum Hauptmotor der Produktivitätssteigerung eines Unternehmens machen?

Die Antwort ist - wieder einmal - paradox: So wie das Kommandosystem aus Gehorchenden Befehlende gemacht hat - aber gehorchende Befehlende -, so zielen die neuen Organisationsformen auf eine Verwandlung von Unselbständigen in Selbständige ab - allerdings in unselbständige Selbständige. Um diese neue Figur verstehen zu können, müssen wir noch einmal einen neuen Blick auf das Verhältnis von Autonomie und Fremdbestimmung werfen.

Der oberste Chef einer Kommandohierarchie ist autonom, das heißt: er muß sich nicht nach anderen richten, sondern kann tun, was er selber will. Nun kann man mit einer leichten Akzentverschiebung nachfragen: heißt das denn auch, daß er tun kann, was er will? Doch wohl nicht. Es gibt auch an der Spitze der Hierarchie eine Art von Fremdbestimmung, die sich allerdings von der Fremdbestimmung innerhalb der Hierarchie unterscheidet. Das Verständnis der Fremdbestimmtheit des Unternehmers ist der Schlüssel zum Verständnis der neuen Managementformen. Worin besteht sie?

Der Unternehmer muß zwar niemandem gehorchen, aber er ist, wie man so sagt, »Sachzwängen« ausgesetzt. eine irreführende Redeweise! Eine Sache zwingt niemanden, weil sie von niemandem etwas will. Umgekehrt: der Unternehmer will etwas von ihr, und das verlangt allerdings ein sachgemäßes Tun seinerseits, nämlich ein Tun, das sich nach den in der Sache liegenden Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten richtet. Und das ist etwas ganz anderes als die Unterordnung unter einen Zwang.

Nehmen wir zum Beispiel das Verhältnis des Unternehmers zum Markt. Der Markt wird zwar von Menschen gemacht und ist Oberhaupt nichts anderes als eine Form des wechselseitigen Verhaltens von Menschen zueinander, aber trotzdem kann er vom Unternehmer nicht so beherrscht und kontrolliert werden wie die Abteilung eines kommandomäßig organisierten Unternehmens. Der Markt hört nicht auf Kommando. Er entwickelt sich den Menschen gegenüber - und jetzt fällt das entscheidende Wort - autonom.

Damit haben wir nun den Begriff der Autonomie in einer völlig neuen Gestalt vor uns. Er hat die Fronten gewechselt und bedeutet ungefähr das Gegenteil von dem, was vorher damit gemeint war. Wenn er vorher auf die Selbstbestimmung vorn Individuen zielte, zielt er jetzt auf die Eigendynamik der Bedingungen, die die Individuen in ihrem Verhalten bestimmen, ob sie es wollen oder nicht, - also auf ihre Fremdbestimmung. Die Fremdbestimmtheit des Unternehmers ist Gegenstück und Resultat der Autonomie der gesellschaftlichen Zusammenhänge, der Gesetze der Kapitalverwertung, des Marktes usw. ihm gegenüber.

Und daraus ergibt sich die Auflösung der Paradoxie: Weil die Autonomie des Unternehmers bereits mit dieser Art von Fremdbestimmung verbunden ist, kann sie ohne Aufhebung der Macht- und Eigentumsverhältnisse auf das Innenverhältnis eines Unternehmens übertragen werden. Die Abhängigkeitsform des Kommandosystems wird dabei nicht ersatzlos gestrichen, sondern sie wird in diejenige Form der Abhängigkeit verwandelt, in der sich der Unternehmer gegenüber den ökonomischen Rahmenbedingungen seines Handelns befindet. Zu diesem Zweck werden die Anweisungs- und Kontrollverhältnisse zwischen den Mitarbeitern eines Unternehmens durch marktförmige Verhältnisse ersetzt, die aus Vorgesetzten und Untergebenen Konkurrenten am Markt - innerhalb und außerhalb des Unternehmens - machen, und an die Stelle der Strafe tritt der »eigene« unternehmerische Mißerfolg, die Niederlage in der Konkurrenz.

Wenn dabei für die Arbeitnehmer eine Steigerung des Leistungsdrucks -durch eine Verminderung des Zwangs herauskommt, so geht es für die Unternehmer um einen Zuwachs von Macht durch einen Verzicht auf Kontrolle. Die »autonom« ablaufenden Prozesse im reorganisierten Unternehmen entziehen sich der direkten Art der Steuerung nach Art des Kommandosystems, aber sie lassen sich indirekt steuern, indem man die Rahmenbedingungen manipuliert auf die sie dann autonom - reagieren. Die Rolle des Unternehmers verwandelt sich dabei aus derjenigen eines Kommandanten von Untergebenen in diejenige eines Biotechniker des »Humankapitals« ein realer Machtgewinn, der aber nur um den Preis realer Autonomie- und Selbständigkeitsgewinne auf seiten der einzelnen Arbeitnehmer zu haben ist.

Beschäftigte, Betriebsräte und Gewerkschaften haben damit nicht nur eine Problem völlig neuer Qualität und Größenordnung vor sich, sondern es verändern sich auch - gleichsam in ihrem Rücken - die Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen Oberhaupt. Eins ist klar: Gegen die negativen Folgen der neuen Managementformen kann man sich weder mit einer Verteidigung des alten Kommandosystems wehren noch mit Kampfformen, die speziell auf das Kommandosystem zugeschnitten waren. In Zukunft wird alles davon abhängen, wieweit es gelingt, aus der zunehmenden individuellen Autonomie und Selbständigkeit der Beschäftigten am Arbeitsplatz, Energien für die Entwicklung von Gegenmacht zu gewinnen.

Dieser Artikel erschien erstmals in »Die Mitbestimmung``, Heft Sept. 96 (Hefttitel »Ganz zwanglos''), Hg. Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf Hier erschienen mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Erschienen in und genommen aus FIFF-Kommunikation 4/97

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